Die neue Barftgaans | Feuilleton im Netz – 2. Juli 2023
Fließende Melodien
Hugo-Distler-Ensemble eröffnet St.-Marien-Sommerkonzerte unter dem Titel „Panta rhei“
Meist hat es der Erste, der anfangen muss, schwer. Nicht so die Akteure für das erste St.-Marien-Sommerkonzert, das Hugo-Distler-Ensemble aus Lüneburg. Die rund zwei Dutzend Sängerinnen und Sänger bestritten den Auftakt für 2023. Es ist wunderbar zu sehen, wie die Reihen in der Kirche schon an diesem ersten Tag der Konzertreihe gefüllt waren. Bis zum 26. August wird es jetzt an jedem Samstag heißen: Termin 16:45 Uhr, St. Marien.
Und so hatten der Leiter des Ensembles, Kantor Erik Matz, und sein Chor quasi ein Heimspiel. Sie stellten ihr Konzert unter das Motto „Panta rhei“ – Alles fließt – womit man nichts falsch machen kann. Denn neben der Lebenszeit fließen das Wasser und die Melodien und die Gefühle, die besungen wurden. Alles hat eben seine Zeit. Um daran zu erinnern, erklang von Orlando di Lasso das „Omnia tempus habent“, die Motette für zwei achtstimmige Chöre, die die tröstliche Schlusszeile beinhaltet: „Tempus belli et tempus pacis“ – Der Krieg hat seine Zeit, aber der Frieden genauso. Erst recht, möchte man hoffen. Angesichts dieser Gegenwart ist das wichtig ...
Das Hugo-Distler-Ensemble suchte sich für sein Programm Noten durch die Jahrhunderte. Zwischen dem erwähnten Orlando di Lasso – 16. Jahrhundert – Johann Sebastian Bach und dem 1970 geborenen Eric Whitacre. Dessen „Alleluia“ hatte einen Hauch von gregorianischem Gesang, wurde außerordentlich ausdrucksstark dargeboten, mit einem schwebend-sphärischen Sopran und samtweichem Fine-Ton.
Fröhlich, überzeugt und überzeugend dann Bachs Motette „Lobet den Herrn, alle Heiden“. Die Verbeugung vor eben diesem Giganten von Knut Nysted (1915 bis 2014), „Immortal Bach“ (Unsterblicher Bach) war eine Entdeckung. Das kleine Ensemble spaltete sich in sechs (!) vierstimmige Chöre und man meinte, die Töne kämen von überall her. Sogar die Orgel glaubte man zu hören, dabei saß überhaupt keiner auf der Empore! Ein unglaublicher Eindruck.
Mit John Dowland, Hugo Alfvén und Hugo Distler wurde es weltlicher, denn man sang von den Freuden und Leiden der Liebe. „Come again“ heißt es bei Dowland, „to see, to hear, to touch, to kiss“. Der Mann lebte in der sinnenfreudigen Shakespearezeit, da erklärt sich diese Aufforderung. Aus Eduard Mörikes Chorliederbuch dann „Nimmersatte Liebe“ und „Zum Tanze da geht ein Mädel“.
Der Chor fand von Beginn an zu seiner beeindruckenden Gesamtleistung. Jeder bewegte sich in der Vielstimmigkeit der Kringel, Koloraturen und dem Fugato eines Bach sicher, da klappte nichts nach am Ende. Mit großer Einsatzfreude und Energie verliehen alle ihrer Stimme angemessene Trauer oder Ausgelassenheit, je nach Partitur. Das Ensemble kannte keine Schwäche, stimmlich so wenig wie in Konzentration des oft komplizierten Musizierens.
Geboten wurde der eindrucksvolle musikalische Cluster „Love’s tempest“ eines Edward Elgar (1857 bis 1934) und die stille, gedankenvolle Meditation von Sven David Sandström (1942 bis 2019) samt seiner Aufforderung „To see a world“. Die Welt zu sehen, die sich in einem Tropfen oder einem Sandkorn komplex spiegelt.
Ehe man noch einen Gedanken verschwenden mochte, ob ein Sommerkonzert nicht vielleicht ein bisschen heller und aufgekratzter enden darf, hob Erik Matz den Taktstock zu „Horch, was kommt von draußen rein“. Die meisten im Publikum konnten die besungene Unbeständigkeit der Männer sicherlich mit Humor nehmen. Dieser letzte Vortrag eines souverän aufgestellten Chores, der flexibel und bestechend deutlich agierte, schickte der das Publikum in den Samstagabend.
Barbara Kaiser, 2. Juli 2023
Landeszeitung für die Lüneburger Heide, 14.03.2022
Intensiv und ausdrucksstark
Mit „Cruzifixus“ lotet das Ensemble Hugo Distler Aspekte der Passionszeit musikalisch aus - und das facettenreich
von Heinz-Jürgen Rickert
Lüneburg. Johann Sebastian Bach formulierte das Thema auf den Punkt, setzte zugleich stringent den Rahmen: „Jesu, deine Passion, will ich jetzt bedenken“, Zeit für Einkehr, Gedanken, Nachspüren, um sich berühren zu lassen. Das Hugo-Distler-Ensemble unter Leitung von Erik Matz folgte diesem Pfad der biblischen Leidensgeschichte mit einer Musik, die auch Zuversicht stiftete. „Crucifixus“ war das anspruchsvolle Programm überschrieben. Das Motiv vom Kreuz als Moment des fassungslosen Staunens, Innehaltens und Überwindens von Todesangst, so vermittelt es der christliche Glaube. Texte und Klänge in ausgeklügelter Dramaturgie, vom Publikum in der Lüneburger St. Nicolaikirche aufmerksam wahrgenommen.
Almut Roeßler gestaltete die Wortbeiträge. Sie beschrieben Stationen der Passion, der Garten Gethsemane mehrfach im Fokus, aus dem Matthäus-Evangelium oder von Friedrich Walz
mit „Seht hin, er ist allein im Garten“, addiert durch Passagen von Jesaja oder dem Paulusbrief an die Philipper. Texte, die ergriffenes Zuhören auslösten und sich mit den gesungenen Teilen geschickt abwechselten.
Erik Matz hatte mit seinem Chor ein stattliches Spektrum verschiedener Epochen, vier- bis achtstimmig, ausgesucht und mit beachtlicher Präzision einstudiert. Heinrich Schütz lieferte mit „Ehre sei dir, Christe“ aus der Matthäus-Passion (SWV 479) den ältesten Beitrag, Franz M. Herzog (Jahrgang 1962) mit „In monte Oliveti“ das jüngste Werk. Dazwischen reihten sich der wenig bekannte Antonio Lotti (1647-1740) mit „Crucifixus“ oder „Das Blut Jesu Christi“, eine Rarität von Johann Ludwig Bach, Johann Kuhnaus „Tristis es anima mea“ und das aufwühlende „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ von Hugo Distler.
Lupenreine Intonation und perfektes Zusammenspiel
Die gesprochenen und gesungenen Texte schufen einen authentischen, sehr dichten Raum, der die Aspekte der Passionszeit facettenreich auslotete und unterschiedliche Zugänge ermöglichte, stets intensiv, ausdrucksstark und bildkräftig. Sämtliche Stücke trug der Kammerchor a cappella vor. Das Distler-Ensemble zeichnete sich jeweils durch lupenreine
Intonation aus. Das Zusammenspiel der Stimmen funktionierte perfekt, ausgewogen und selbst in den Hochlagen unangestrengt. Die Ausführenden bestätigten dabei ihr vorzügliches Niveau von früheren Auftritten, sie bewältigen noch schwierigste Herausforderungen mit Bravour.
In seiner Komplexität stellt Anton Bruckners „Christus factus est“ die Vokalisten vor eine besonders heikle Aufgabe, weil hier eine enorm breite Differenzierung verlangt ist, vor allem in der Dynamik. Das gelangt dem Kammerchor großartig, ebenso in dem Passionsgesang von Arnold Mendelssohn. Die klaren, einfühlsamen Vorgaben von Erik Matz fUhrten das Ensemble souverän über jede Klippe. Es war ein Konzert ohne Effekte, ohne Opulenz, aber in seiner Diktion wunderbar fUr den Anlass zugeschnitten. Die Besucher erhoben sich am Ende, reagierten mit Stille und Andacht, was ungeteilten Zuspruch signalisierte.
Feuilleton im Netz (Die Neue Barftgaans), 13.03.2022
Passions-Triple: In St. Marien startete der Zyklus von drei Konzerten
[Hugo-Distler-Ensemble: „Crucifixus“]
Besinnung und Sich-Besinnen sind in diesen Tagen das vielleicht wertvollste Rezept für das allgemeine Innehalten und Nachdenken in der Passionszeit, die ja auf die Katastrophe des Karfreitags zustürzt. Erik Matz lädt aus diesem Anlass zu drei Konzerten. Das erste war „Crucifixus“ benannt und hatte Chormusik auf dem Programm. Zu Gast war das Hugo-Distler-Ensemble aus Lüneburg.
Die zwei Dutzend Sängerinnen und Sänger aus der benachbarten Hansestadt sind eine vielfach ausgezeichnete Formation und trugen ihrem Ruf Rechnung. Mit einem glockenreinen Timbre von Beginn an, mit einer vorbildlich artikulierten Textverständlichkeit, die Fine-Töne stets sauber. Der Chor überzeugte mit beeindruckenden Crescendi, war im Piano atemberaubend, im Forte an keiner Stelle schrill.
So arbeiteten sich die Sänger durch Musikliteratur zwischen Barock (Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach), Romantik (Anton Bruckner) und Moderne (Arnold Mendelssohn und Hugo Distler). Der „Meininger Bach“, Johann Ludwig Bach, steuerte eine Motette bei und Antonio Lotti (1647 -. 1740) den Konzert-Titel gebenden achtstimmigen Chor.
Das Hugo-Distler-Ensemble beherrschte die Balance zwischen Leidenschaft und Respekt, stand mit seiner Interpretation sicher zwischen Tradition und persönlicher Anteilnahme. Gesungen wurde mit einer Schlichtheit, die dem jeweiligen Werk die Chance ließ, sich selbst zu offenbaren. Erik Matz führte den zu jeder Zeit vollpräsenten Chor ohne überbordete Gesten, wie es dem Thema der Konzertstunde zukam.
Die 60 Minuten wurden kongenial gestützt und ergänzt durch die Lesungen. Almut Roeßler am Pult artikulierte wohlgefällig, ohne falsches Pathos und unaufgeregt. Wie sehr die klug ausgewählten Text Gegenwärtigkeit, ja Aktualität projizierten – das wird jeder Konzertbesucher empfunden haben.
„Seht hin!“ lautete die eindringliche Aufforderung in den Versen von Friedrich Walz (1932 – 1984), die die Einsamkeit Jesu vor seinem Tod beklagen. „Weil Qual und Sterben auf ihn warten/ und keiner seiner Freunde wacht!“ Vom großen Aufklärer (neben Lessing) Christian Fürchtegott Gellert gab es die Ermahnung: „Ich will nicht Haß mit gleichem Haß vergelten…“ Wie vielen Politikern wünschte man in diesen Tagen derlei Einsichten.
„Hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit“, schloss der 4-stimmige Chor aus Heinrich Schütz’ Matthäus-Passion das Konzert. „Kyrie eleison“ – „Herr, erbarme dich“. Es gibt in dieser Gegenwart mehr als genug Anlässe, um Erbarmen zu flehen, sich darum zu mühen…
Am Ende des Konzerts standen die Zuhörer schweigend, ehe sie beeindruckt und nachdenklich das Gotteshaus verließen. Das nächstfolgende Passionskonzert erklingt am Sonntag, 3. April 2022, 17 Uhr, St. Marien.
Barbara Kaiser – 13. März 2022